Ich danke sehr für 1500 Twitter-Abonnenten! Aus diesem Anlaß präsentiere ich als Dreingabe einen bislang unveröffentlichten, wesentlichen Text zur Problematik der Freiheit.
Es handelt sich um den ersten Entwurf des Nachworts zu meiner deutschsprachigen Übersetzung von F. Roger Devlins beeindruckendem Werk Sexual Utopia in Power, die bei Antaios als Sex, Macht, Utopie erschienen ist. (Die zeitweilig im Raum stehende Betitelung mit Frauen wollen Hengste, um sie zu kastrieren konnte ich gerade noch abwenden.)

Das letztlich abgedruckte Nachwort aus meiner Feder unter dem Titel »Ums Ganze« läßt sich im fertigen Buch nachlesen. Dieser hiermit erstmals veröffentlichte ursprüngliche Entwurf, abgeschlossen am 2. Februar 2017, wurde es nicht. Mit seinen Verweisen auf Bloch und Gehlen und Schelsky und andere hätte er die Leser angeblich »überfordert«. Dazu kann sich jeder Interessierte nun seine eigene Meinung bilden. Alles entspricht dem Original, abgesehen von der Absatzstruktur, die ich zur leichteren Lesbarkeit der Online-Darreichungsform angepaßt habe. Die Verlinkungen waren im Print-Text natürlich auch nicht enthalten.
Zu frei zum Glück?
von Nils Wegner
»Mother of the free / She said that we’d breathe
Mother of the free / But we just scream«
Manic Street Preachers – Democracy Coma (1991)
“Freiheit” ist ein Wort mit schönem Klang. Wohl jedermann wird auf Anhieb zustimmen, daß Freiheit etwas Erstrebenswertes sei – worin gleichzeitig immer mitklingt, daß sie zum jeweils aktuellen Zeitpunkt eben gerade (noch) nicht erreicht sei. Das hat seinen Grund: Die Vorstellung einer totalen Freiheit als eines rein negativ definierten Zustands (also der totalen Freiheit von) bedeutet die Abwesenheit sämtlicher das Individuum bedingenden äußeren wie inneren Faktoren, womit gleichsam das Sensorium abhandenkommt, die Freiheit wahrnehmen zu können.
Daß im historischen Liberalismus das Streben nach Freiheit in eine konkrete ideologische Form gegossen wurde, ist nur auf den ersten Blick ein Paradoxon. Bei näherer Betrachtung ist sonnenklar, daß ein unkoordinierter, also keiner ordnenden Hand unterworfener, privater Freiheitsdrang aufgrund seiner innewohnenden Bezugslosigkeit und somit Gleichgültigkeit nicht politisch mobilisierbar ist.
Der Linken auf ihrem säkular-chiliastischen Marsch »zur Sonne, zur Freiheit« ist und war das sehr wohl bewußt und wurde samt Konsequenzen zur Selbstverständlichkeit – so beschrieb der Hohepriester des Neomarxismus Ernst Bloch in seinem Hauptwerk ganz unumwunden, was es zur Errichtung der »Konkreten Utopie« eines »Reichs der Freiheit« (Marx) brauche:
Die Wege dazu sind gleichfalls nicht liberal; sie sind Eroberung der Macht im Staat, sind Disziplin, Autorität, zentrale Planung, Generallinie und Orthodoxie. Und das Ziel, welches jeder künftigen Freiheit den Halt gibt, zeigt gleichfalls mit dem Liberalismus der Dissoziierung keinerlei Verwandtschaft; konträr: gerade totale Freiheit verliert sich nicht in einem Haufen hüpfender Beliebigkeiten und in die substanzlose Verzweiflung, die an deren Ende steht, sondern siegt einzig im Willen zur Orthodoxie.1
Ob diese Freiheit durch und im Zwang wünschenswert oder auch nur plausibel ist, bleibt zu bezweifeln. Ebenso verhält es sich mit den Konsequenzen einer angenommenen totalen Freiheit für die einzelnen Menschen und ihre Beziehungen untereinander. Ein früher Kritiker war der Soziologe Helmut Schelsky, der in einer Art “Anti-Bloch” der marxistischen Teleologie diagnostizierte, ebenso wie der Nationalsozialismus die »Kollektivsubjekte« – hier Klasse und Gesellschaft, dort Volk und Nation – unzulässiger- und gefährlicherweise zu »Trägern des Weltverständnisses« zu erheben.2
Schelsky griff dabei unmittelbar auf Gedanken seines Lehrers Arnold Gehlen zurück, der bereits zehn Jahre zuvor, zum Höhepunkt der bundesrepublikanischen Studentenrevolte, auf die bemerkenswerten Parallelen zwischen im Ostblock regierendem Kommunismus und dem ihm im Ordnungsdenken anverwandten BRD-Konservatismus hingewiesen hatte. Dieser erstmals so formulierte Vergleich hatte Gehlen viel Mißgunst eingebracht, um so mehr, als er vom Realkommunismus den Intellektuellen-Kommunismus der westdeutschen Intellektuellen scharf trennte und letzteren aufgrund ihres Revolutionarismus unterstellte, letztlich einem »Aufstand des Nihilismus« den Weg zu bereiten, um endlich alle überkommenen Institutionen wie Staat, Justiz und Familie abzuräumen.3
Zur selben Zeit braute sich auf der anderen Seite des Atlantiks ein anderer Sturm zusammen. 1945 war Wilhelm Reichs The Sexual Revolution erschienen und hatte den Ausdruck »sexuelle Revolution« in seinem heutigen Bedeutungsgehalt geprägt: Da die Sexualität des Menschen essentieller Bestandteil seiner Vitalität sei, führe ihre Sublimation zu Deformationen der Persönlichkeit, die sich in Frustration und Aggression äußerten – eine Vorstufe zum “autoritären Charakter” mit seiner Lust an Herrschaft und Unterwerfung als Triebabfuhr. Eine sexuelle Befreiung der Individuen sei daher unabdingbare Voraussetzung zur Herstellung im wahrsten Wortsinne befriedigender Lebensverhältnisse, die Aussöhnung der gesellschaftlichen Schichten miteinander und eine allgemeine Hinwendung zu Gewaltlosigkeit und Herrschaftsfreiheit deren logische Folge.4
Die beiden Kinsey-Berichte erschienen 1948 und 1953,5 nur kurz darauf die englischsprachige Erstveröffentlichung von Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft,6 des Erstlings- und Schlüsselwerks des Freudomarxismus, der Psychoanalyse und Kritische Theorie im Sinne der anbrechenden Postmoderne synthetisierte.
Den endgültigen Dammbruch markierte die am 18. August 1960 beginnende Vermarktung des Hormonpräparats “Enovid”, ehemals (offiziell) zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden eingesetzt,7 als Verhütungsmittel in den USA und im Folgejahr auch in Westdeutschland: Fortan sollte der sogenannte “Pillenknick” in den westlich-liberalen Gesellschaften Einzug halten. Die sogenannte “sexuelle Revolution” im Kielwasser der westlichen “Kulturrevolution” 1968ff. erhielt dadurch ihren maßgeblichen Aufwind. Dies ist der Moment, an dem die in diesem Werk vertretene Kritik der (post-)modernen Gesellschaft und ihres Geschlechterbildes ihren Ausgang nimmt.
Die grundlegende Kultur- und Gesellschaftskritik des promovierten Philosophen, der innerhalb des weiten Felds der US-amerikanischen außerparlamentarischen Rechten (Alt-Right)8 unter dem Namen F. Roger Devlin veröffentlicht und keine persönlichen Details preisgibt, hat an dieser Stelle nicht nur ihren zeitlichen, sondern auch ihren ideologischen Ursprung:
1967 luden der nach Revolution dürstende Sozialistische Deutsche Studentenbund einen russischstämmigen Philosophen nach Berlin ein, der quasi im Alleingang für die Wiederentdeckung Hegels in Frankreich gesorgt hatte und seine westdeutsche Zuhörerschaft mit der knappen Einlassung überrumpelte, daß das Erlernen des Altgriechischen ihre dringlichste Aufgabe sei, ehe er ins Sauerland zu einem landesweit verfemten Juristen weiterreiste, der im zeitgenössischen Deutschland »doch der einzige, mit dem zu reden sich lohnt«,9 sei.
Dieser Mann war Alexandre Kojève, der von 1933 bis 1939 eine Vertretungsprofessur in Paris innehatte und in dieser Zeit mit seinen Hegel-Vorlesungen eine ganze Generation von Kulturphilosophen beeinflußte (darunter etwa George Bataille, Raymond Aron und Pierre Klossowski; auch Jacques Derrida und Michel Foucault beriefen sich maßgeblich auf Kojève). Sein – von einem Studenten aus Vorlesungsmitschriften zusammengestelltes – chrestomathisches Hauptwerk Introduction à la lecture de Hegel (Paris 1947) erstand Devlin nach eigener Aussage
für vielleicht fünf Kröten in einem Gebrauchtbuchladen, im französischen Viertel des New Orleans der späten 1980er – und es fegte mich einfach weg. Es ist ein faszinierendes Buch. Es verschafft jedem, der in Richtung Philosophie neigt, geistigen Genuß.10
Kojève entwickelte Hegels in der Phänomenologie des Geistes (1807) dargelegte These vom “Ende der Geschichte” im liberalen Staat weiter und gelangte zu der Ansicht, daß dieses auch vom Marxismus übernommene Ideal in der Wohlstandsbürokratie der Vereinigten Staaten weiter als etwa in der Sowjetunion umgesetzt worden sei11 – eine Konvergenztheorie, die der fast zeitgleich von Arnold Gehlen (unabhängig) publizierten sehr ähnelt.
Devlin seinerseits, der unter anderem an der Freien Universität Berlin studierte und in seiner ersten Monographie entlang der Philosophie Kojèves (die er »rationalen Historizismus« nennt) die Menschenbilder von Antike bis Moderne Revue passieren ließ,12 hat diese Verwaltungsherrschaft als wesentlichen Faktor des gesellschaftlichen Niedergangs ausgemacht, was sich in den Essays des vorliegenden Buchs niederschlägt.
Devlin ist es nur vordergründig um das Verhältnis von Mann und Frau zueinander zu tun; dahinter steht grundsätzlich die traditionelle Familie als Sinnbild und Keimblatt von Gesellschaft und Staat, allesamt Institutionen, die zur gegenwärtigen Zeit existentiell bedroht sind (daher seine Ansicht, daß »wir uns sexuelle Gleichheitsideologie nicht leisten können«13). Dieser Blickwinkel und sein vehementes Eintreten für den Erhalt der European Americans machen ihn zu einem eminent politischen Denker – und erklären den berechtigten Hohn, den er wieder und wieder über Beschwichtigungskonservativen und Vertretern der christlichen US-Rechten ausgießt, die ein von Grund auf familienfeindliches System reformieren oder gesundbeten zu können glauben.
Akademisch geschult, schreibt Devlin dennoch locker; seine Texte, von denen in diesem Buch nur eine Auswahl vorgestellt wird, kombinieren ein sattes Faktenfundament mit trocken-scharfem Humor. Das aber verhüllt nicht ihren radikalen Anspruch im Angesicht eines tödlich dekadenten und bis ins Mark zerrütteten politisch-kulturellen Szenarios zwischen Hypergamie und Familiengericht: Der sprichwörtliche Fisch stinkt von Kopf und Schwanz gleichermaßen her,14 und nur ein grundsätzlicher Wandel des aller Politik zugrunde liegenden Denk- und Wertesystems wird noch eine Wendung zum Guten herbeiführen können. Dazu muß die häßliche Realität demaskiert werden:
Eine Gefahr des konservativen Fokus auf Recht und Ordnung ist, daß er uns unvorbereitet auf den Ausnahmefall zurückläßt. Wir alle kennen grundsätzlich intelligente Konservative, die selbst in Zeiten blutiger Straßenschlachten noch darüber reden, wie wichtig es sei, daß die Republikaner verantwortungsvolle Haushaltspolitik betreiben. Die beste Kur für solche Blindheit ist ein Crashkurs in politischer Pathologie.15
1. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Gesammelte Werke Bd. 5, Frankfurt a.M. 1959, S. 618.↩
2. Vgl. Helmut Schelsky: Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines Jugendbewegten, Stuttgart 1979.↩
3. Vgl. Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a.M. u. Bonn 1969.↩
4. Zum Zeitpunkt seiner weitgehend unbemerkten Erstveröffentlichung trug das Werk einen gänzlich anderen, nicht weniger bezeichnenden Titel: Die Sexualität im Kulturkampf. Zur sozialistischen Umstrukturierung des Menschen, Kopenhagen 1936. Reich wurde erst ein knappes Jahrzehnt nach seinem Tod 1957 von der Studentenbewegung wiederentdeckt; die deutsche (Rück-)Übersetzung erschien pünktlich 1966.↩
5. Der amerikanische Zoologe und Begründer der akademischen Sexualforschung Alfred Charles Kinsey (1894–1956) veröffentlichte 1948 und 1953 die Ergebnisse seiner Interviews mit über elftausend US-Bürgern zu deren Sexualverhalten. Die Berichte (dt. Das sexuelle Verhalten der Frau, Berlin 1954; Das sexuelle Verhalten des Mannes, Berlin 1955) zogen aufgrund ihrer Schlußfolgerungen (so sei etwa die Hälfte der Bevölkerung latent bisexuell und beinahe 25 Prozent krankhaft pervers) massive Kritik auf sich.↩
6. Vgl. Herbert Marcuse: Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955. Die deutschsprachige Übersetzung (Stuttgart 1957) bewahrte in der Erstauflage noch den ursprünglichen Titel, ehe in späteren Ausgaben die von wenigen Interessenten verstandene Anspielung auf Freuds Das Unbehagen in der Kultur (Wien 1930) aufgegeben und der Titel zum eher reißerischen Triebstruktur und Gesellschaft geändert wurde. 1964 veröffentlichte Marcuse in Boston überdies das für die frühe Studentenbewegung ungleich bedeutsamere Werk One-Dimensional Man (dt. Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967), das die o.g. Ausführungen Ernst Blochs radikalisierte und die Fundamentalopposition der bestehenden Gesellschaft gegenüber zur Grundvoraussetzung jeder “progressiven” Veränderung erklärte.↩
7. Grundfunktionsweise der “Pille” ist seit ihrer theoretischen Entwicklung um 1921 die durch externe Hormonzufuhr (Östrogen und Gestagen) erreichte “Umtaktung” des weiblichen Zyklus, wodurch letztlich die erfolgreiche Einnistung einer befruchteten Eizelle beinahe verunmöglicht wird. Die entsprechenden – anfangs wegen mangelnder Empirie völlig überdosierten – Präparate wurden aufgrund ebendieser Wirkung bis zur offiziellen Genehmigung biochemischer Verhütung als Medikamente gegen Menstruationsbeschwerden verkauft.↩
8. Vgl. Nils Wegner: »Den Schmelztiegel entmischen – Rechte Dissidenz in den USA«; in: Sezession 69 (13) 2015, S. 42f. Neben ihrer Parteiferne zeichnet die diffuse, um ihre eigenen Grenzen unentwegt streitende Alt-Right vor allem ihr Eklektizismus aus, der “Männerrechtler” neben integralen Traditionalisten, “Neoreaktionären” und “weißen Separatisten” stehen läßt.↩
9. Jacob Taubes: »Carl Schmitt – ein Apokalyptiker der Gegenrevolution«; in: ders.: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 7–30, hier S. 24.↩
10. »Greg Johnson Interviews F. Roger Devlin on Alexandre Kojève & the End of History«, Counter-Currents v. 27. Dezember 2013. http://www.counter-currents.com↩
11. “Geschichte” ist im Hegelschen Sinne als Menschheitsfortentwicklung durch Konflikt (»Dialektik von Herr und Knecht«) zu verstehen gemäß des Heraklit-Fragments, wonach der Krieg Vater und König aller Dinge sei; der vollendete Liberalismus ziehe darunter einen Schlußstrich, indem er sämtliche gegensätzlichen Standpunkte in einer Synthese zusammenführe. In dieser Tradition argumentiert auch Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; Parallelen zu Carl Schmitts Begriff des Politischen sind offensichtlich. Kojèves Betrachtungen über die USA finden sich “versteckt” als mehrseitige Fußnote in späteren Auflagen der Introduction à la lecture de Hegel. Zur Kritik an der entpolitisierenden “Managerherrschaft” vgl. das postum erschienene Meisterwerk Samuel T. Francis: Leviathan and Its Enemies. Mass Organization and Managerial Power in Twentieth-Century America, Whitefish 2016.↩
12. Vgl. F. Roger Devlin: Alexandre Kojève and the Outcome of Modern Thought, Lanham 2004.↩
13. F. Roger Devlin: »Why Most High-Achievers Are Men (& Why We Cannot Afford Sexual Egalitarianism«, Counter-Currents v. 2. November 2016. http://www.counter-currents.com↩
14. Das ist wörtlich zu nehmen: Einer der jüngsten Reißer des von Devlin schwer gescholtenen Cosmopolitan befaßt sich beispielhaft mit Pheromon-Parfum. Vgl. Allison Ramirez: »I Wore Perfume Made From My Vagina to See If It Would Get Me Better Dates«, Cosmopolitan v. 30. Januar 2017. http://www.cosmopolitan.com↩
15. F. Roger Devlin: »A Serious Case«; in: Greg Johnson (Hrsg.): North American New Right, Bd. 1, San Francisco 2012, S. 290–298, hier S. 290.↩